Es geschah im Schnee
Orkanartiger Wind, minus 40 Grad Kälte, seltsame Himmelserscheinungen - und plötzlich sind neun junge Menschen tot. Stecken dahinter CIA-Agenten, Radioaktivität oder schlicht eine ungewöhnliche Lawine? Über eine mysteriöse Katastrophe im Ural im Winter 1959.
Von Hans Holzhaider
In der Nacht vom 1. zum 2. Februar 1959 starben während einer Skiwanderung in der Wildnis des nördlichen Uralgebirges, nahe der Grenze zwischen Europa und Asien, neun junge Leute, zwei Frauen und sieben Männer. Die Stelle, an der sie ums Leben kamen, wurde später nach dem Führer der Gruppe benannt: der Djatlow-Pass. Die Umstände ihres Todes geben bis heute Rätsel auf. Die Theorien über das, was sich in jener Winternacht an der östlichen Flanke des Berges ereignete, den die Mansen, die indigenen Bewohner dieser Gegend, Cholat Sjachl, den "kahlen Berg" nennen, füllen mehrere Bücher und Tausende Internetseiten.
Die Mitglieder der Wandergruppe kamen aus Swerdlowsk (heute Jekaterinburg), der Millionenmetropole im südlichen Ural. Fünf von ihnen - Igor Djatlow (23), Juri Doroschenko (21), Ljudmila Dubinina (20), Sinaida Kolmogorowa (22) und Alexander Kolewatow (24) waren Studenten am Polytechnischen Institut des Ural (UPI). Nikolaj Thibeaux-Brignolle (23) hatte sein Studium am UPI 1958 beendet und arbeitete als Bauleiter. Auch Georgi Kriwonischtschenko (23) hatte am UPI studiert und arbeitete danach in einer streng abgeschirmten Produktionsstätte für waffenfähiges Plutonium in Tscheljabinsk. Rustem Slobodin (23), war Ingenieur in einem Forschungsinstitut für Chemiemaschinen, aber er hatte auch eine Musikschule besucht, und er nahm seine Mandoline mit auf die Skitour. Und schließlich Semjon Solotarjow, der zumindest vom Alter her gar nicht zu der Gruppe passte. Er war 38, hoch dekorierter Weltkriegsveteran und zuletzt als leitender Führer in einem Wanderzentrum tätig. Alle neun waren erfahrene Skiwanderer, körperlich fit und absolut qualifiziert für die als sehr schwierig eingestufte Tour, die sie in knapp drei Wochen von der Ortschaft Wischai, 600 Kilometer nördlich von Swerdlowsk, durch menschenleere Wildnis und meterhohen Schnee auf die Berge Otorten und Ojko-Tschakur führen sollte.
Die Gruppe fährt mit dem Zug von Swerdlowsk nach Iwdil, dem Standort eines Straflagers, in dem 1959 noch mehr als 15 000 Verurteilte Zwangsarbeit leisten müssen, und von dort weiter mit dem Bus nach Wischai. Am 26. Januar nimmt sie ein Lastwagen mit zur Holzfällersiedlung Distrikt 41. Von dort geht es auf Skiern weiter, aber ein freundlicher Förster leiht ihnen einen Pferdeschlitten, der ihre schweren Rucksäcke noch bis zu einer verlassenen Bergwerkssiedlung transportiert. Hier verabschieden sie sich vom zehnten Mitglied der Gruppe: Ein entzündeter Ischiasnerv zwingt Juri Judin zur Umkehr. Die anderen machen sich am Morgen des 28. Januar auf den Weg zum Otorten, zunächst nördlich entlang des Flusses Loswa und dann nordöstlich dessen Nebenfluss Auspija folgend. Am Abend des 30. Januar lagern sie am Fuß des Passes, über den sie wieder ins Tal der Loswa gelangen wollen. Aber der nächste Tag verläuft nicht wie geplant.
Noch ehe sie den Pass erreichen, zwingt sie ein orkanartiger Wind zur Umkehr. Sie müssen noch einmal im Auspijatal lagern. Igor Djatlow schreibt ins Gruppentagebuch: "Wir sind erschöpft. Feuerholz ist knapp und feucht. Abendessen im Zelt. Schön und warm. Oben auf dem Grat wäre es bestimmt ungemütlicher, heulender Wind, hundert Kilometer von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt."
Es ist das letzte Lebenszeichen der neun Wanderer.
Die Rückkehr der Gruppe nach Wischai war für den 12. Februar geplant, aber angesichts der Schnee- und Wetterverhältnisse hatte Djatlow schon eine Verzögerung von zwei bis drei Tagen angekündigt. Aber als es auch am 16. Februar noch keine Nachricht von den Wanderern gab, drängten besorgte Angehörige die Funktionäre des UPI und der örtlichen Parteiorganisation in Swerdlowsk zu einer Suchaktion. Es vergingen weitere vier Tage, bis sich die ersten Suchtrupps an die Arbeit machten, unterstützt vom Militär mit Suchhunden und Helikoptern.
Fußspuren von acht oder neun Personen führten vom Zelt in Richtung des Passes
Am 26. Februar entdeckten zwei Studenten des UPI und ein Förster aus Wischai an der Ostflanke des Cholat Sjachl in etwa 900 Meter Meereshöhe das verlassene Zelt der Djatlow-Gruppe. Der Cholat Sjachl steigt westlich des Passes auf, den die Wanderer überqueren wollten. Der Berghang ist völlig kahl mit einer Neigung von 15 bis 20 Grad. Die Wanderer hatten den Schnee so abgestochen, dass eine waagerechte Fläche entstand. Das Zelt war in der Mitte eingesackt und teilweise mit einer 20 bis 30 Zentimeter hohen Schneeschicht bedeckt. Die dem Berg abgewandte Seite war durch mehrere lange Schnitte zerfetzt. Unter dem Zeltboden lagen acht Paar Skier. Auf dem Zeltboden verteilt fanden sich verstreut fast die gesamten Habseligkeiten der Wanderer: neun Rucksäcke, acht Windjacken, acht Wattejacken, 13 Paar Handschuhe, acht Paar Skischuhe, sieben Filzstiefel, Äxte, eine Säge, zwei Eimer, zwei Kessel, der zylinderförmige Ofen, den Djatlow selbst konstruiert hatte, vier Fotoapparate, das Tagebuch. Vor dem Zelteingang steckte ein Eispickel im Schnee, daneben lag Djatlows Windjacke. Der seltsamste Fund aber war eine funktionsfähige Taschenlampe, die auf dem Zeltdach auf einer Schneeschicht lag, während auf der Lampe selbst kein Schnee war.
Die ersten Suchmannschaften, die das Zelt erreichten, achteten offensichtlich wenig auf Spuren. Die Berichte stimmen darin überein, dass Fußspuren von acht oder neun Personen vom Zelt in Richtung des Passes führten, die etwa einen halben Kilometer weit deutlich sichtbar waren, weiter unten aber, wo mehr Schnee angeweht war, verschwanden. Niemand berichtete von anderen Spuren, sei es von Menschen oder von größeren Tieren, was aber nicht heißen muss, dass es solche Spuren nie gab. Insbesondere flache Spuren von Skiern oder Schneeschuhen wären nach fast vier Wochen wahrscheinlich nicht mehr sichtbar gewesen.
Das Zelt war gefunden - aber wo waren die Wanderer? Der nächste Tag brachte schreckliche Gewissheit. Wenige Meter auf der Nordseite des Passes, unter einer hohen Zirbelkiefer über dem Steilufer eines Baches wurden die Leichen von Juri Doroschenko und Georgi Kriwonischtschenko entdeckt. Sie lagen nebeneinander, nur von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, spärlich bekleidet - Hemd und lange Unterhose, keine Schuhe, keine Kopfbedeckung. Neben den Leichen erkannte man die Überreste eines Lagerfeuers. Um die Zirbelkiefer herum gab es etwa ein Dutzend Stümpfe abgeschnittener junger Tannen.
Die Entfernung vom Standort des Zeltes bis zum Fundort der ersten beiden Leichen beträgt etwa 1500 Meter. Noch am gleichen Tag fand man die Leichen von Igor Djatlow und Sinaida Kolmogorowa. Sie lagen fast exakt auf der Linie zwischen Zelt und Kiefer, Djatlow etwa 400 Meter, Kolmogorowa etwa 900 Meter von dem Baum entfernt. Auch sie trugen keine Schuhe. Erst weitere sechs Tage später, am 5. März, kam unter einer zehn Zentimeter hohen, festgepressten Schneedecke auch die Leiche von Rustem Slobodin zum Vorschein, etwa halbwegs zwischen Djatlow und Kolmogorowa. Die Obduktion ergab, dass alle fünf erfroren waren, aber der Gerichtsmediziner notierte, abgesehen von einer Vielzahl von Schürfwunden, auch einige Besonderheiten: Slobodin hatte eine sechs Zentimeter lange Fissur im linken Schläfenbein. Doroschenkos linke Wange war mit einer grauen, schaumigen Substanz bedeckt, die aus dem Mund ausgetreten war - kein Symptom einer Erfrierung. Kriwonischtschenko hatte am linken Unterschenkel eine 30 Zentimeter lange, schwere Brandverletzung. Keiner dieser Befunde konnte zufriedenstellend erklärt werden.
Das größte Rätsel sind die Obduktionsberichte
Und es fehlten ja auch noch vier Mitglieder der Wandergruppe. Die Suche nach ihnen blieb lange ergebnislos. Erst Anfang Mai gab der abschmelzende Schnee eine Spur frei: abgeschnittene Tannenzweige, die eine Art Pfad in die Schlucht des nach Norden fließenden Baches bildeten. Diesem Pfad folgend, grub sich die Suchmannschaft durch die mehr als vier Meter dicke Schneeschicht am Grunde der Schlucht, und dort, in einem reißenden Strom aus Schmelzwasser, lagen die Leichen von Ljudmila Dubinina, Alexander Kolewatow, Nikolai Thibeaux-Brignolle und Semjon Solotarjow. Nicht weit entfernt vom Fundort der Leichen entdeckte die Suchmannschaft unter zweieinhalb Meter Schnee eine ebene Fläche von etwa drei Quadratmetern, die mit abgeschnittenen Tannenbäumchen ausgelegt war. Darauf lagen mehrere Kleidungstücke der verstorbenen Wanderer, aber auch die Überreste einer militärischen Wickelgamasche aus grauem Tuch, die nach allem, was man weiß, nicht zur Ausrüstung der Djatlow-Gruppe gehörte.
Es sind die Obduktionsbefunde dieser vier Leichen, die das größte Rätsel der Djatlow-Katastrophe aufgeben. Denn jedenfalls Dubinina, Thibeaux-Brignolle und Solotarjow waren nicht erfroren, sondern an den Folgen ihrer schweren Verletzungen gestorben. Bei Thibeaux-Brignolle wurde eine schwere Schädelfraktur festgestellt. Das rechte Schläfenbein war auf einer Fläche von 2,5 mal 3 Zentimetern zwei Zentimeter tief eingedrückt - eine tödliche Verletzung. Dubinina und Solotarjow erlitten multiple Rippenbrüche - bei Dubinina vier Rippen rechts und fünf links, mit der Folge einer massiven Einblutung in der rechten Herzkammer. Bei Solotarjow waren vier Rippen auf der rechten Seite gebrochen, in der Pleurahöhle fand sich ein Liter Blut - ohne medizinische Hilfe musste er in kurzer Zeit ersticken. Und darüber hinaus fehlten bei Dubinina und Solotarjow beide Augäpfel, bei Dubinina auch die Zunge.
Die Leitung der Ermittlungen lag in der Hand des Swerdlowsker Staatsanwalts Lew Iwanow. Er ordnete eine Untersuchung der Leichen und der Bekleidungsstücke auf Radioaktivität an. Das Ergebnis: Drei Kleidungsstücke wiesen Spuren radioaktiver Verstrahlung auf. Dafür könnte es eine simple Erklärung geben: 1957 hatte sich in der Atomanlage, wo Kriwonischtschenko arbeitete, ein Unfall ereignet, der dem von Tschernobyl kaum nachstand. Aber man könnte natürlich auch auf andere Gedanken kommen. 2012 erschien in Russland das Buch eines anonymen Autors, der eine exotische Theorie entwarf: Der sowjetische Geheimdienst KGB habe zwei Agenten in die Wandergruppe eingeschleust, um durch die fingierte Übergabe von radioaktivem Material ein Spionageteam des CIA zu enttarnen. Das verabredete Treffen sei aus dem Ruder gelaufen, mit dem Ergebnis, dass die US-Agenten die russischen Kontaktpersonen teils brutal ermordet, teils dem Erfrieren preisgegeben hätten.
Absurd? Gewiss. Aber 1959, zwei Jahre nach dem Start von Sputnik, als die USA und die UdSSR sich einen gnadenlosen Wettlauf um die atomare Vorherrschaft lieferten, mag es einiges an Absurditäten im Kampf zwischen den Geheimdiensten gegeben haben. Und bis heute ist nicht klar, warum der Staatsanwalt Iwanow auf die eigentlich abwegige Idee kam, die Leichen auf Radioaktivität untersuchen zu lassen. Iwanow selbst gab später an, es seien Berichte über unerklärliche Himmelsphänomene in der Uralregion gewesen, die ihn dazu veranlasst hätten. Tatsächlich beobachteten viele, durchaus seriöse Zeugen unter anderem am 1. und 17. Februar und noch einmal am 31. März 1959 leuchtende Objekte in der Größe eines Vollmondes, die sich mehrere Minuten lang über den Nachthimmel bewegten und dann verschwanden. Er sei nach wie vor überzeugt, schrieb Iwanow noch 1990, dass die neun Wanderer durch eine unbekannte Energie getötet wurden, die von diesen "Feuerbällen" ausging. Der Verdacht liegt nicht fern, dass ein Staatsanwalt, der solchen Unsinn verbreitet, in Wirklichkeit eine andere, unerwünschte Wahrheit verschleiern will. Andererseits erinnert das Szenario eines US-Agententeams mitten in der sibirischen Wildnis schon sehr an die Fantasien eines zweitklassigen Thrillerautors. Dazu passt, dass sich hinter dem Namen Alexej Rakitin, den sich der anonyme Autor zulegt, ein vielköpfiges Autorenteam verbirgt, das auch Science-Fiction-Romane produziert. Und um das Fehlen von Augäpfeln und Zunge zu erklären, muss man keine CIA-Folterknechte bemühen. Dazu reicht auch ein Schwarm Krähen oder ein Horde kleiner Krebstiere im Gebirgsbach.
Aber auch, oder gerade wenn man alle Mutmaßungen über die Aktivitäten von KGB, CIA und Aliens ins Reich der Verschwörungstheorien verbannt, gibt das Schicksal der neun Frauen und Männer am Djatlow-Pass Rätsel auf. Was kann neun kräftige, gesunde Menschen veranlasst haben, bei tiefster Dunkelheit und Temperaturen unter minus 20 Grad Celsius ohne Windjacken, Schuhe, Mützen und Handschuhe das Zelt zu verlassen und mehr als einen Kilometer weit in den nahezu sicheren Tod zu laufen? Wie kamen Dubinina, Thibeaux-Brignolle und Solotarjow zu ihren tödlichen Verletzungen?
Das nächstliegende Szenario, das schon während der Bergungsarbeiten und der Ermittlungen für das wahrscheinlichste gehalten wurde, war eine Lawine. Die neun Wanderer im Zelt, einige noch mit Kochen beschäftigt, andere, die sich erschöpft hingelegt hatten, und dann wird das Zelt urplötzlich unter einer Schneemasse begraben. Oder hatte sich das Unglück schon durch ein Geräusch angekündigt, und einer oder zwei konnten noch rechtzeitig ins Freie entkommen? Die anderen schneiden die Zeltwand von innen auf, buddeln sich nach draußen, und alle zusammen flüchten aus Furcht vor weiteren Lawinenabgängen bergabwärts zum Pass.
Allerdings versichern Fachleute, dass ein Lawinenabgang bei einer Hangneigung von weniger als 30 Grad sehr unwahrscheinlich ist. Und multiple Rippenbrüche sind keineswegs eine typische Lawinenverletzung. In einer kürzlich im Fachmagazin Communications Earth & Environmentveröffentlichten Studie allerdings relativieren die Schweizer Forscher Johan Gaume und Alexander Puzin diesen Einwand. Die Wanderer hatten die Schneedecke senkrecht angestochen, um das Zelt aufzustellen. Wenn unter einer Deckschicht schweren, vom Wind zusammengepressten Schnees eine dünne, sehr instabile Schneeschicht lag, und wenn der hangabwärts wehende Wind im Lauf einiger Stunden eine kleine Schneewehe über dem Zelt anhäufte, dann könnte sich auch bei der geringen Hangneigung unvermittelt ein Schneebrett lösen. Wenn diese Schneemasse einen Menschen trifft, der flach auf einer harten Unterlage - hier den unter dem Zeltboden ausgelegten Skiern - liegt, dann könnte dies auch die festgestellten Einbrüche des Brustkorbs verursachen.
Die Theorie hat aber einen Haken: Mit den geschilderten Verletzungen hätten Dubinina, Thibeaux-Brignolle und Soltarjow nie und nimmer den Weg bis zum Pass und noch weiter in die Schlucht, wo sie gefunden wurden, schaffen können. Und es steht außer Frage, dass diese drei ihre beiden Kameraden, die bei der Kiefer gefunden wurden, überlebten, denn sie hatten Kleidungsstücke bei sich, die sie den beiden ausgezogen hatten, und das sicherlich nicht, als diese noch lebten. Der Swerdlowsker Staatsanwalt Andrej Kurjakow, der 2018 auf Initiative von zwei Journalisten der Komsomolskaja Prawdanoch einmal Ermittlungen im Fall Djatlow aufnahm, kam zwar auch zu dem Ergebnis, dass eine Lawine die Katastrophe auslöste. Aber er geht davon aus, dass die vier zuletzt aufgefundenen Wanderer nach dem Tod ihrer Gefährten versuchten, sich in der Schlucht einen notdürftigen Unterschlupf zu bauen, und dass sie dabei in dem steilen Gelände von abrutschenden Schneemassen getötet wurden. Djatlow, Slobodin und Kolmogorowa, die am Berghang zwischen Zirbelkiefer und Zelt gefunden wurden, hätten versucht, das Zelt zu erreichen, um wärmende Kleidung zu holen, hätten aber bei dem stürmischen Wind, der die gefühlte Temperatur auf unter minus 40 Grad sinken ließ, keine Überlebenschance gehabt.
Das neueste Szenario im Fall Djatlow stammt von dem russischen Kernphysiker Igor Pawlow, der sich sehr tief in das umfangreiche Archivmaterial eingearbeitet hat. Seine Theorie: Das Zelt der Djatlow-Gruppe stand ursprünglich nicht auf dem Hang des Cholat Sjachl, sondern in der Nähe der Kiefer, und wurde nachts von einem umstürzenden Baum getroffen. Weil einige Armeeoffiziere und Parteifunktionäre glaubten, das Unglück sei durch in der Nähe durchgeführte Sprengungen verursacht worden, und fürchteten, zur Rechenschaft gezogen zu werden, arrangierten sie das Zelt und die Leichen in aller Heimlichkeit so, dass der wahre Ablauf vertuscht wurde. Das würde einiges erklären: In der Tat erscheint es sehr ungewöhnlich, dass die Wanderer ihr Zelt auf dem ausgesetzten, unwirtlichen Berghang aufschlugen, statt im Schutz der Bäume, wo sie leichten Zugang zu Wasser und Feuerholz hatten. Die schweren Brustverletzungen wären durch einen umstürzenden Baum zwanglos zu erklären. Und schließlich wären die Rätsel der Militärgamasche und der Taschenlampe auf dem Zeltdach gelöst, für die es bisher keinerlei andere Erklärung gibt. Aber es gibt auch einige entscheidende Einwände: Die ganze Geschichte beruht auf bloßen Mutmaßungen. Die Risse im Zelt waren eindeutig von einem scharfen Werkzeug, nicht von einem umstürzenden Baum erzeugt worden. Es lag auch nirgends ein umgestürzter Baum. Es gibt nicht den kleinsten Beleg dafür, dass eine Sprengung einen Baum zum Umstürzen brachte, und es gab deshalb auch keinerlei Grund für die angeblichen Verschwörer, eine so aufwendige Operation in Gang zu setzen, die nach menschlichem Ermessen niemals geheim bleiben konnte.
Und so bleibt die Katastrophe vom Djatlow-Pass bis heute, was sie seit 62 Jahren ist: ein Mysterium.